Inspiriert von Petra Gust-Kazakos (aka Philea), die in Ihrem Blog „Sammelstückchen“ ausstellt habe ich in unserem Haus mal die Krüge zusammengesucht, die sich im Laufe der Jahre so angesammelt haben. Fast alle der Krüge stammen von Reisen, wenngleich Sie nicht als Souvenir im eigentlichen Sinne gedacht waren, dennoch:  Als ich jeden Krug in die Hand nahm, um ihn zum Foto zurecht zustellen, kamen tatsächlich die Erinnerungen an die Situation in der ich den der Krug erworben, nicht immer gekauft, habe. Einige davon habe ich Philea erzählt und sie hat davon in ihrem Blog berichtet. Krüge scheinen doch von größerem Interesse zu sein, als ich dachte. Es trudeln nun Nachfragen nach einzelnen Krügen und deren Geschichten ein.  Das  nehme ich zum Anlass, eine kleine Serie begründen – für die Krug- und Geschichteninteressierten.


Der Artikel ist etwas lang geworden. Wer ihn lieber hören als lesen mag, kann ihn hier anhören oder herunterladen:  

Krug aus Sibirien

Der Krug im Bild stammt aus Sibirien, genauer aus Tobolsk. Wenn ich ihn ansehe, dann entführt mich die Erinnerung zurück in meine Zeit in Tjumen.

[dropcap]S[/dropcap]ibirien. Hier nur bekannt als Land der Kälte und der Verbannung. Das ist aber nur zum Teil richtig. Tatsächlich ist es dort wirklich richtig kalt. Zu Beginn meiner Zeit in Tjumen wurde ich auf eine Datscha mit Sauna an einem kleinen See außerhalb von Tjumen eingeladen wurde. Zunächst sollte gegessen werden und dann in die Sauna. Ja, das ist anders als bei uns. Bei uns hat Sauna immer etwas Körper-gesundes. In Russland ist Sauna (Banja) in erste Linie etwas für die Seele, auch darf man nach einem guten und reichlichen Essen in die Sauna. So wird auch Vodka und „Schapanska“ zwischen den Saunagängen getrunken. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Ich will zunächst von der Kälte erzählen.  – Vor dem Essen wollte ich noch eine kleine Wanderung machen. Es war Winter, ein wunderschöner Winter. Die Sibirier sagen, der Winter sei die schönste Jahreszeit in Sibirien. Es mögen so minus 30 Grad gewesen  sein. (Ja es geht auch kälter, das ist aber eher im Nordosten Sibiriens, Tjumen liegt im Südwesten.) Schöne trockene Kälte, der Schnee so kalt und pulverig, dass man ihn kaum zu Schneebällen formen kann.

Nun, ich wollte also – bis zum Essen waren noch drei Stunden zu überbrücken – ein wenig wandern. Allein, um die Landschaft und die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen.  Ich lief also los, dick in warme Kleidung gepackt. Einfach den Weg im Schnee entlang in den laublosen, deshalb übersichtlichen, Birkenwald.

Ich hatte vor, ungefähr eine Stunde zu gehen und dann umzukehren. Nach einer Stunde wurde mir kalt und ich kehrte um. „Das passt ja“, dachte ich und begann mich auf einen heißen Tee zu freuen. Was dann kam, habe ich bis heute in lebhafter Erinnerung: Mir wurde kälter und kälter. Selbst schnelles Gehen, dann Laufen führte nicht mehr dazu, dass mir warm wurde. Ich fror von innen. Nicht nur die Hände und Füße, die auch schon mal in Winter bei uns kalt werden. Nein, die Kälte schien von innen zu kommen und mir die Kräfte zu rauben. Das Laufen wurde immer mühsamer und irgendwie machte sich auch so etwas wie Angst breit.

Endlich sah in einiger Entfernung die kleine Datschensiedlung und dann auch das Häuschen und die dampfende Sauna. Außer Atmen und völlig durchgefroren kam ich an. Man hatte sich schon sorgen gemacht und schüttelte über „den aus dem Westen“ den Kopf: „Wandern?! Im Winter?!“

[dropcap]I[/dropcap]m Sommer dagegen ist es sehr heiß in Sibirien. Im Südwesten Sibiriens kommen in den sumpfigen Gebieten dann noch die Mücken dazu. Ein Aspekt des Klimas in Sibirien, der im Westen eher weniger bekannt ist. Die atemberaubendste Jahreszeit in Sibirien ist aber der sehr kurze Herbst.

Es war schon Herbst, als ich zu einem Tagesausflug in die nach Tjumen zweitgrößte Stadt Sibiriens, nach Tobolsk, eingeladen. Tjumen ist die Haupstadt und zugleich größte Stadt des Tjumenskij Oblast (einem Förderationssubjektes Russlands, unseren Bundesländern vergleichbar). Der Tjumenskij Oblast hat insgesamt ca. 1,3 Mio Einwohner auf einer Fläche eines Drittels der Größe von Deutschland (ca. 8 Einwohner je qkm, Deutschland 229 Einwohner je qkm)), davon Leben ca. 580.000 in Tjumen-Stadt.

Es sollte also nach Tobolsk gehen, die auch zweitälteste Stadt des Oblast Tjumen – die älteste ist Tjumen. Sehenswert sei dort der älteste steinerne Kreml östlich des Ural. „Tagesausflug“, das heißt wohl 1-2 Stunden fahren, den Tag Vorort verbringen und dann wieder 1-2 Stunden zurück. Auch die Entfernungsangabe, ca. 250 km, ließ auf einen solchen Ablauf schließen.

Nun, ich hatte zu lernen, dass Entfernungen und Zeitläufe in Sibirien anders gemessen werden. Am Morgen der Abfahrt traf sich die kleine Gruppe vor einem Syncro, einer Art geländegängigen, allradgetriebenen VW-Bus aus den UAZ-Werken in Uljanovsk (genauer: ein UAZ 452V, die Personentransportervariante eines geländegängigen Kastenwagens). Kisten und Taschen mit allerlei Gerät sowie Ess- und Trinkbaren wurden in den freundlich hellblau und weiss gefärbten Minibus verladen und es ging los. Innerstädtisch ging es noch ganz flott. Nachdem wir die GAI-Station (Verkehrspolizei) am Außenring der Stadt passiert hatten, wurden die Straßen jedoch merklich schlechter, die Natur dafür umso atemberaubender. Dieses Gelb der Birkenwälder ist ohne Gleichen. Noch heute dringt es aus meinen Träumen in den Tag.

Wir legen so zwischen 30 und 50 Kilometer in der Stunde zurück. Die Aussicht auf die Landschaft, die zunächst abwechslungsreich ist, lenkt von dem geringen Tempo er Reise ab. Die Wälder wechseln ab mit den sumpfigen Steppen. Nach einiger Zeit verliert sich jedes Zeichen von Zivilisation, nur am Horizont sind menschliche Siedlungen zu erkennen. Und tatsächlich, das sieht aus wie ein Minarett. Ich erfahre, dass wir im Lande der Tartaren sind (genauer, die Chanten und Mansen, in deren autonomen Region „Chanti-Mansisk“ auch Tartarenvölker leben). In dieser Region leben einige tartarischen Völker, die mehrheitlich Muslime sind und hier, natürlich, auch ihre Gotteshäuser haben.

Die Landschaft wird eintöniger und nach bereits drei Stunden Fahrt werde ich unruhig. „Kann man schon etwas sehen, von unserem Ziel?“ Jede Flussbiegung halte ich für Vorzeichen der Mündung des Tobol in den Irtysch, jenes Zusammenflusses an dem Tobolsk liegen sollte. Meine Reisegefährten schmunzeln bei meiner Nachfrage. Ich meine sehen zu können, was sie denken: „Diese ungeduldigen Leute aus dem Westen.“.

Nun, man suchte zunächst ein schönes Plätzen in der Nähe des Flusses um ein Picknick zu machen. Grill, Gaskocher und die vielen sibirischen Köstlichkeiten werden ausgepackt. So lerne ich den gekocht wie gegrillt gleichermaßen leckeren Weißfisch „Muksun“ kennen. Tee wird gekocht und auch Wodka getrunken. Zu meiner Beunruhigung sogar vom Fahrer. Mein kritischer Blick, den ich leider nicht unterdrücken kann, wird mit dem Hinweis darauf, dass der Fahrer sehr erfahren sei und die Straßen breit und wenig kurvig sind, quittiert.

Ausführliches russisches Picknick also, von erfahrener Hand zubereitet. Nach einer guten Stunde geht die Reise weiter. Die sumpfige Steppe des westsibirischen Tieflandes wird eintöniger, hin und wieder Dörfer am Horizont, ab und zu Aussicht auf den Fluss und oft entlang der Pipelines, die meist Gas, in den Süden des Landes zum Kaspischen Meer transportieren. Von dort wird es verschifft zu uns, wo es unsere Wohnungen wärmt.

Die Zeit verging quälend langsam, während der Syncro mit 30-50 Kilometern in der Stunden dahin schlich; das Ruckeln des Wagens, das Glas („Stogram“) Vodka versetzte mich in einen tranceähnlichen Zustand, der mich vom Kurier des Zaren träumen ließ. Die vom Jules Verne erzählte abenteuerliche Reise von Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk. Vor Jahren hatte ich das gelesen und mir nie träumen lassen, dass ich die dort beschriebenen Landschaft, das überwältigende Reisegefühl beim Anblick der Landschaften Sibiriens einmal selbst erleben werde. Orts- und Flussnamen, die ich nur aus Jules Vernes Reisebeschreibung kannte, stehen hier auf Orts- und Hinweisschildern.

Aus meinem halbschläfrigen Tagtraum wurde ich geweckt, als der Wagen plötzlich stoppte und man beschloss mir auf der Brücke über den Irtysch den Blick auf Tobolsk am Horizont zu zeigen. Tobolsk liegt auf einem kleinen Hügel (immerhin 90 m hoch, was hier im Tiefland schon wie ein Berg anmutet), den der Irtysch am Ende der Eiszeit geschoben hat.

Die Straße wurde immer besser und wir fuhren schneller, wenngleich weder Straße noch Geschwindigkeit mit den in Westeuropa herrschenden Verkehrbedigungen für eine 250 km Reise in die Nachbarstadt zu vergleichen ist. Es dauert noch eine weitere Stunde bis wir den berühmten Kreml erreichen.

Bis hierher hatten wir insgesamt acht Stunden benötigt.

[dropcap]T[/dropcap]obolsk war schnell erkundet: Die Stadt ist weitläufig, viele sibirische Holzhäuser auf großem Grundstück. Platz ist hier kein knappes Gut. Sie hat einen Hafen, der an die Häfen im nördlichen Norwegen erinnert. Der Irtysch ist hier bereits ein gewaltiger Fluss.

Der Kreml ist tatsächlich sehenswert. Er zeugt von der Zeit als sich das zaristische Russland nach Sibirien ausgedehnte. Hier nahm die Eroberung Sibiriens durch die Russen ihren Anfang und der steinerne Kreml ist der Beginn der Steinbauten in Sibirien, mit Festungsanlagen, Kathedrale und auch Handelshäusern. Auch das Heimatmuseum zeugt davon. Ein Rundgang von einer Stunde erschließt alles, was es zu sehen gibt. Da meine russisch-sibirischen Reisebegleiter zwar sehr stolz auf diese städtebaulichen Kleinode in dieser Weite Sibiriens waren, jedoch kein Interesse für die indigenen Völker Sibiriens zeigten, haben wir uns das Museum der Chanten und Mansen leider nicht angeschaut.

Innerhalb der Kremlmauern hatte eine alte Frau einen Stand mit allerlei, teils sehr frömmelnden Andenken aufgebaut. Das hat mich sehr verwundert: Einerseits die christlichen Andenken hier in Russland, dass sich doch gerade erst von seinem atheistischen Kommunismus zu emanzipieren begann (es war 1992) und ich fragte mich, ob sich das Geschäft lohnt, hier im  menschenleeren Sibirien. Danach gefragt als ich den Krug kaufte, sagte die alte Frau „Sie sind doch gekommen!“ und, ganz altersweise, „was die Kirche betrifft: Moskau und die roten Zaren sind weit …“

[dropcap]D[/dropcap]er Rest der Reise ist schnell erzählt: Wir hielten uns ca. eineinhalb Stunden in Tobolsk auf und machten uns dann auf die Rückfahrt, die, weil ohne Picknick, nur sieben Stunden dauerte. Zu sehen gab es in der Dunkelheit nicht viel. So dämmerte und schlief ich vor mich hin und träumte erneut vom Kurier des Zaren. Zwischendurch hatte ich das Gefühl das Pferdetrappeln des Tatarenheeres zur hören und als aus dem Dunkel der sibirischen Nacht die Lichter von Tjumen auftauchten, glaubte ich im Halbschlaf das Brennen der vom Tartarenführer Ogareff gebrandschatzten Siedlungen zu erkennen.

[dropcap]W[/dropcap]ieder munter im Hotel hatte ich meine Lektion gelernt für meine Zeit in Sibirien: 250 km – acht Stunden Hinfahrt – eineinhalb Stunden Aufenthalt – sieben Stunden Rückfahrt. Distanzen und Zeit haben hier eine andere Bedeutung.
Immer wenn ich den Krug anschaue mahnt er mich, meine Maße zu relativieren und erinnert mich an die Zuversicht und die Worte der alten Frau am Andenkenstand: „Sie sind ja gekommen! Moskau und die roten Zaren sind weit.“