Seit diesem Jahr habe ich eine kleine Literaturkolumne in unserer lokalen Wochenzeitung. Jeweils in der letzten Ausgabe des Monats der Werdener Nachrichten  erscheint eine Besprechung eines oder mehrerer Titel zu einem Thema. Für diejenigen die diese Zeitung nicht beziehen aber trotzdem wissen wollen, was ich da so bespreche, gibt es die Artikel mit etwas zeitlichem Versatz nun auch hier.

Murray SchaferFluglärm und zunehmender Verkehrslärm: Wir diskutieren schon länger die Belastungen, die durch KFZ- und Fluglärm entstehen. Doch erst in letzter Zeit tritt die Belastung durch Lärm ins größere öffentliche Bewusstsein. Es gibt jedoch schon länger Versuche der systematischen Beschäftigung mit unserer klanglichen Umwelt.
Bereits in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich der Kanadier R. Murray Schafer die Frage nach den Veränderungen der Klangumgebung gestellt. Dabei ging es zunächst weniger um die Frage der Belästigung durch Lärm, sondern eher um die Frage wie sich unsere Umwelt klanglich verändert im Laufe der Zeit.
In seiner 1977 erstmals in Toronto erschienenen Kulturgeschichte des Hörens „The Tuning of the World“ (1988 zunächst recht oberflächlich und nicht ganz vollständig in deutscher Übersetzung bei Athenäum erschienen, 2010 in ganz neuer Übersetzung bei Schott) stellt Murray Schafer seine ersten Überlegungen zur Frage der klanglichen Gestalt der Welt an. Begleitet wurden seine Überlegungen, durch das von ihm initiierte „World Soundscape Project“ in den späten 60er und frühen 70er des 20. Jahrhunderts:
Während wir uns aus der Frühzeit der Zivilisation der Antike, über das Mittelalter bis hinein in die Neuzeit sehr leicht durch Bildhauerei, Malerei und zuletzt Fotographie eine Vorstellung über die visuelle Gestalt vergangener Zeiten machen können, haben wir so gut wie keine Vorstellung vom klanglichen Umfeld der Städte und Landschaften vergangener Zeiten. Einzig die Musik, wenn sie auf alten Instrumenten gespielt wird, vermag uns einen Eindruck von den kunstfertigen Klängen vergangener Jahrhunderte zu geben. Wie unsere Städte und Landschaften aber geklungen haben bevor maschinenerzeugte Klänge sie dominierten, ist kaum vorstellbar und vielleicht an einigen entlegenen Plätzen der Welt noch erfahrbar. Schafer erzählt die Geschichte der Veränderung und der Nicht-Wahrnehmung der Veränderungen unseres klanglichen Umfelds. Er beschreibt, wie der Lärm der Fabriken, der Lärm der fernen Eisenbahn als wohltuender Klang des Fortschritts galt; wie die Maschinen unser klangliches Umfeld schleichend aber endgültig verändert haben. Heute gelten Manchem dröhnende Motorräder als Inbegriff von Freiheit und Freizeit. Während Stille sogar in Fahrstühlen oder Kirchenräumen zumindest mit Hintergrundmusik beseitigt werden muss.
Schafer lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die alltäglichen Klangereignisse: Können wir unseren Schlüsselbund am Klang von anderen unterscheiden? Wie klingt Kies unterschiedlicher Körnung, wenn wir darauf laufen? Diese und andere Klangwahrnehmungsaufgaben, die Schafer mit seinen Studenten durchführte, werden berichtet im glücklicherweise immer noch lieferbaren Bändchen: „Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören“. Die Aufgaben führen den Übenden in eine ganz neue Dimension der Umweltwahrnehmung. Sie machen erfahrbar, was Johne Cage meinte, mit seinem Hinweis, dass jedes Geräusch interessant sei, wenn man nur genau zuhörte – auch die Stille!
Einen ganz anderen Zugang zur auditiven Umwelt eröffnet der inzwischen leider verstorbene Jazzkenner und SWR-Musikjournalist Joachim E. Behrendt. Die aus einer Radiosendungsreihe beim SWR entstandene Zusammenstellung „Nada Brahma – die Welt ist Klang“ (1983 erstmals erschienen, seit 2007 als Suhrkamp-TB lieferbar) setzt sich mit der philosophischen, psychologischen und auch metaphysischen Dimension unserer klanglichen Umgebung auseinander.
Während Berendt fragt, was macht „Hören“ und die Veränderungen der klanglichen Umwelt eigentlich mit uns, versuchen Schafer und sein Soundscape-Team der im Hermann Hesses Glasperlenspiel geäußerte Befürchtung entgegen zu wirken: „Damals sind von Menschenohren Klänge gehört worden, die keine Wissenschaft und kein Zauber … zurückbeschwören können.“
Beide Bände sind sehr aktuell und lesenswert; die Neuausgabe und Ergänzung von Murray Schafers Kulturgeschichte des Hören ist ein sehr dankenswertes Projekt.

R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Schott. 2010. ISBN 978-3-7957-0716-3
Bernius/Kemper/Oehler/Wellmann: Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Vandenhoeck und Ruprecht. 2006. ISBN 978-3-525-49095-2
Johannes E. Berendt: Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Suhrkamp. 2007. ISBN 978-3-518-45895-2