Wo Bier eine Nummer hat, Baikalseewasser fast gut schmeckt und man sich selber „wursten“ kann. – Wlada Kolosowas Reise in ihre unbekannte Heimat.
[dropcap]S[/dropcap]eit einigen Jahren stehen allerhand Bücher über Russland in meinem Schrank. Teils zur Vorbereitung meiner projektbedingten Aufenthalte im europäischen und sibirischen Teil Russlands, teils um nach dieser Zeit in Russland Informationen über die Entwicklungen im Land zu bekommen. Natürlich befinden sich in den Regalen die Texte von Gerd Ruge und Thomas Roth, die kenntnisreich über Politik, Geschichte und „Land und Leute“ berichteten. Auch die rechthaberische Weltungangs- und -verschwörungsprosa von Peter Scholl-Latour steht neben all den interkulturellen und landeskundlichen Informationsschriften.
[dropcap]I[/dropcap]nsofern war ich vorbelastet und höchst gespannt auf den Text von Wlada Kolosowa – und ich wurde von Russland to Go sehr angenehm überrascht. Gehört hatte ich schon von ihrer Reise und auch in ihr Blog und ihre Spiegel online Kolumne habe ich gelegentlich mal geschaut. Was ich dort zu sehen und zu lesen bekam, machte neugierig: Eine junge Frau die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens in Russland, die zweite in Deutschland verbracht, sich selbst als „ungeübte Russin“ beschreibend, auf Rundreise in ihrer ersten, anderen Heimat. Das klingt vielversprechend.
Nun, was soll ich sagen, wer interessiert ist, wie die jungen Menschen in Russland so leben und was sie denken, wen interessiert, wie jemand aus der jungen Migrantengeneration mit den beiden Kulturen in sich umgeht, dem sei das Bändchen sehr empfohlen. Im Unterschied zu den genannten etablierten Autoren, schreibt Wlada Kolosowa mit Leichtigkeit und unangestrengt über das Leben der jungen Generation in Russland. Wir erfahren etwas über die Beschwerlichkeiten des Lebens im nachsowjetischen Russland und die Träume und den Alltag der jungen Generation. Ganz neben bei räumt sie mit so manchem durchaus auch positiven Vorurteilen der deutschen Russlandromantik auf.
[dropcap]L[/dropcap]esenswert sind die unterhaltsamen Ausflüge in die eigene Biographie, die den Leser zu der Erkenntnis führt, dass ein Leben, mit einem drastischen Kulturwechsel wie ihn Wlada Kolosowa mit zwölf Jahren, als sie mit ihrer Mutter nach Deutschland kam, erlebt hat, voll ist mit Dingen, die man in der einen oder anderen Kultur nie erlebt hat, dass sowohl Erfahrung als auch Wortschatz für die in der jeweiligen Kultur nicht durchlebten Dinge fehlen. Ganz jenseits der vielen unterhaltsam geschrieben Erlebnisse, öffnet dies dem Leser die Augen für die Alltagswelt von Menschen, die in ihrem Leben einen solchen Kulturwechsel vollziehen mussten oder wollten.
Darunter hat mir besonders gut gefallen, die Liste der Dinge, die ihren Eltern inzwischen ganz selbstverständlich sind und solchen, die sie meinen nie zu verstehen. „Dass es zum guten Ton gehört. über die Deutsche Bahn zu schimpfen, auch wenn sie ihnen wie die pünktlichste Institution der Welt erscheint.“. Es ist nicht neu, dass die Fremdsicht auf unsere Kultur uns unsere Eigenarten verdeutlicht, aber hier wird es mit einem Augenzwinkern von jemandem vermittelt, die sich zu dieser Kultur zugehörig fühlt.
Nach vielen Reisen in Russland hatte ich in den Darstellungen auch manche Wiederbegegnung. Zum einen natürlich in dem beigefügten Glossar, dass eher ein subjektives Realienverzeichnis der russischen kulturellen Eigenheiten ist. Dann aber auch mit den Beschwernissen des Reisens in einer anderen Kultur im Allgemeinen und des Reisens in Russland im Besonderen: In der Mitte des Bändchen beschreibt sie ihren Zustand als „flexibilitätsmüde“. Sie ordnet diesen Zustand auf Reisen, die meist den meisten Spass davor und danach bringen, mit großer Leichtigkeit ins Leben im Allgemeinen ein. Allein für dieses Wort, das beschreibt, was jeder der regelmäßig auf reisen ist, kennt – man mag nicht mehr alles was so unvorstellbar anders gut finden -, allein dieses Wort war die unterhaltsame Lektüre wert. Danke!
Wlada Kolosowa: Russland to Go. Goldmann 2012. ISBN 978-3-442-15714-3 (Verlagslink)
Wlada Kolosowas Website
Wlada in Russland bei Spiegel online
Der Fotoblog zur Reise hier
Ergänzung: Wlada ließt aus ihrem Text bei FluxFM (Soundcloud)