Seit diesem Jahr habe ich eine kleine Literaturkolumne in unserer lokalen Wochenzeitung. Jeweils in der letzten Ausgabe des Monats der Werdener Nachrichten erscheint eine Besprechung eines oder mehrerer Titel zu einem Thema. Für diejenigen die diese Zeitung nicht beziehen aber trotzdem wissen wollen, was ich da so bespreche, gibt es die Artikel mit etwas zeitlichem Versatz nun auch hier.
Spätestens seit ihrer Verlegung und/oder dem Umbau zum einem S-Bahnhaltepunkt, gehören viele Bahnhöfe zu jenen Orten, die Marc Augé in seinem lesenswerten Essay „Nicht-Orte“ nennt. Es sind Orte, in denen man nicht heimisch ist. Diese Orte haben keine individuelle Identität und haben keine gemeinsame Vergangenheit. Sie stiften keine Beziehungen. Waren Bahnhöfe einst Orte von Begrüßung und Abschied, so findet Ankunft und Abfahrt heute entweder in „Shopping-Centern mit Gleisanschluss“, wie Bahnvertreter sie selbst nennen, oder inmitten von Imbissen jeglicher Couleur statt.
Die beiden Titel von denen heute die Rede sein soll, berichten von Zeiten als Bahnhöfe mit ihren repräsentativen Empfangsgebäuden und imposanten Bahnsteighallen noch Orte dramatischer, tragischer oder komischer Ereignisse waren. Schriftsteller haben sie in ihren Texten verewigt. Mario Leis stellt in seinem Bändchen „Bahnhöfe. Geschichten von Ankunft und Abschied“ Texte aus allen Sparten der Weltliteratur zusammen. Die Texte huldigen dem Bahnhof als Wunderwerk der Architektur, als Orte des Wartens, des Aufenthaltens, des herzblutenden Abschieds, der Verzweiflung oder als ganz eigene Welt: mit Bahnhofswirtschaft, Bahnhofsbuchhandlung und Wartesälen. Sie schildern wie Menschen ihrem Zug entgegen laufen, als stürzten sie sich in ein Abenteuer. Jeder der Züge zieht sie in eine andere Ferne.
Lis Künzli versammelt in „Bahnhöfe. Ein literarischer Führer.“ Ebenfalls Texte von Schriftstellern zu Bahnhöfen. Sie interessiert, was die Schriftsteller zu besonderen Bahnhöfen zu sagen haben. Bahnhöfe sind magische Orte, das hätten Dichter gewusst, kaum, dass die Eisenbahn erfunden war. Die versammelten Autoren teilen ihre Sehnsüchte und Ängste mit, die sie mit „ihrem“ Bahnhof verbinden. Beim Grenzübertritt am Bahnhof Friedrichstraße (Monika Maron und Jens Sparschuh), als Liebeserklärung an den Gare du Nord (George Simenon), oder als Abschied von der Menschlichkeit am Bahnhof Aachen (Thomas Wolfe) und weiteren Bahnhöfen der Welt.
Jeder kennt dergleichen Bahnhöfe auch und hat seine Geschichte mit ihm, sei es der Bahnhof in Helsinki und der Finnlandbahnhof in St. Petersburg, die ihre gemeinsame Geschichte haben, weil einst Lenin in ihm abfuhr bzw. ankam um die Welt zu verändern und die seit dem, aller politischen Gegensätzen zum Trotz, direkt miteinander verbunden sind, oder der Bahnhof in Cardiff mit seinem noch heute deutlich getrenntem Empfangs- und Abfahrtsbereich, der Bahnhof in Hamburg mit viel zu vielen Fahrgästen am Freitagnachmittag und man sich trotzdem gefunden hat. Auch der Bahnhof in Uelzen der mit seinem Hundertwasserbau Menschen aus aller Welt in die Provinz zieht oder die Ruhrgebietsbahnhöfe, keine Schönheiten und jeden Werktag überfüllt, aber doch eine Verbindung zur Welt. Der Blick entlang der Gleise in die Ferne illustriert, was Joseph Roth formulierte: Man könnte jahrelang zuhause sitzen und zufrieden sein, wenn nur nicht die Bahnhöfe wären.
Diese Sehnsucht nach der Ferne vermitteln beide Bücher den Daheimgebliebenen und den Ruhelosen.
Lis Künzli: Bahnhöfe. Ein literarischer Führer. ISBN978-3-8218-0779-9
Mario Leis: Bahnhöfe. Geschichten von Ankunft und Abschied.
ISBN 978-3-458-34671-5
Das Buch ist sehr schön, ich habe es auch und kann es nur empfehlen. Kennst du auch – in der gleichen Art aufgemacht – ihr Buch über Hotels? Ebenfalls sehr empfehlenswert!